Hilfe, ich bin in die Prostitution abgerutscht!
Um Gottes Willen, man rette mich! Ich bin in die Neue Selbstständigkeit und ein erfolgreiches, glückliches, selbstbestimmtes Leben abgerutscht, in dem ich meine eigene Chefin bin und mich niemandem fügen muss. Gott bewahre, ich bin frei und kann mich selbst finanzieren, verfüge trotzdem über genug Zeit für Autorinnenschaft, Fortbildungen, Hobbys, Hund, politischen Aktivismus und Studien, habe ein großartiges Klientel aus respektvollen Herrschaften, das mir wertschätzend begegnet, und Angestellte, die mir unter die Arme greifen. Es ist fürchterlich, ich habe so viele neue Kompetenzen erworben, mich als Mensch rasant weiterentwickelt und bin extrem resilient geworden. Noch dazu habe ich meinen Traumberuf gefunden, der alle meine Stärken hervorhebt und in dem ich mich voll entfalten kann. Man rette mich - ich bin in die Prostitution abgerutscht!
Es ist wahrlich interessant: Familienmitglieder animieren mich, mein Wunschleben, das ich durch die Sexarbeit erlangen konnte, aufzugeben, um ein unglückliches, bürgerliches Dasein mit einem Job zu führen, der gesellschaftliches Ansehen verspricht. Keine Sorge, ich habe mich schon immer als beratungsresistent erwiesen, was meinen Lebensentwurf betrifft, zumal das Annehmen solcher Tipps bedeuten würde, dass ich auch Putin als Vorbild für Nächstenliebe hernehmen oder Justizanstalten in Entwicklungsländern um Kochtipps bitten könnte. Die Leute, die mich von meinem Weg abbringen wollen, haben ein fremdbestimmtes Leben geführt und obwohl sie unglücklich sind, wollen sie genau dieses Leben nun anderen aufzwingen. Münchhausen-by-proxy sag ich da nur.
Sie sprechen von Selbstachtung und Menschenwürde, doch sind sie es, die mich in diesen Aspekten - die bei mir übrigens äußerst ausgeprägt sind - zu kränken versuchen, um mich "zur Umkehr", wie sie es nennen, zu bewegen. Ich bin unglaublich stolz auf mich, liebe mein Leben und der ländliche Kleingeist ist nun wirklich nicht ernstzunehmen. Wie traurig eine Existenz sein muss, in der es darum geht, was die Nachbarn über einen denken!
Sexarbeit bedeutet weder benutzt zu werden, noch Dinge für Geld zu tun, die man nicht tun möchte. Wir sind keine Opfer, die man beschmutzt und missbraucht, wir sind selbstbewusste Frauen aller Gesellschaftsschichten, die sich dafür entschieden haben, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es möchten.
Unsere "verachtenswerte" und "niedrige" Arbeit, wie es so manches Familienmitglied von mir zu nennen pflegt, gibt Menschen ihr Leben zurück. Nicht nur verhindern wir Scheidungen und Vergewaltigungen und helfen anderen beim (Wieder-)Einstieg ins Sexualleben, wir geben auch Alten und Behinderten die Nähe, die ihnen lange verwehrt blieb. Ich bekomme regelmäßig Dankesbriefe von beeinträchtigten Kunden, die mir immer wieder sagen, wie froh sie sind, dass es mich gibt. Zu meinem Sexualbegleitungsklientel gehören auch junge Burschen, die das erste Mal ein Mädchen in den Arm nehmen dürfen - ihr könnt euch vorstellen, wie wertvoll das für sie ist. Sexarbeiterinnen bescheren anderen teilweise die schönsten Stunden ihres Lebens und halten die Gesellschaft zusammen. Fragt in der Pflege nach - so gut wie alle Pflegekräfte haben bereits sexuelle Übergriffe im Altersheim erlebt. Soll man dieses Problem weiterhin ignorieren und so tun, als gehören Belästigung und Gewalt zum Pflegejob dazu? Es braucht professionell ausgebildete Sexualbegleitende, die mit Krankheiten und Beeinträchtigungen umgehen können und die Symptome der Einsamkeit lindern.
Auf Sexarbeiterinnen herabzuschauen sagt viel mehr über die Diskriminierenden aus als über uns Dienstleistende. Im alten Griechenland gab es sogar ein Wort für diesen Charakterfehler: Überheblichkeit höchsten Ausmaßes gepaart mit einer völlig überzogenen Vorstellung vom eigenen Wert nannte der Grieche "Hybris" (sollte übrigens auch von den Göttern bestraft werden, vielleicht haut Zeus noch ein paar Blitze runter). Ich empfinde nichts als Mitleid für alle Menschen, die mit so viel Hass und Vorurteilen durch die Welt gehen, dass sie andere aufgrund ihrer Berufswahl - die nun wirklich niemandem wehtut, ich bin ja keine Auftragskillerin - verurteilen. Lustigerweise sind es genau die Menschen, die auf uns herabschauen und uns verachten, die sich Fehltritte für gleich mehrere Leben zuschulden kommen lassen haben. Aber im eigenen Garten zu kehren wäre zu leicht, man muss auf die Teile unserer Gesellschaft hinhauen, die es bereits am schwersten haben. Ekelig sowas, wirklich.
Ich bin jedenfalls stolz darauf, eine Sexarbeiterin zu sein. Nicht mal im Traum würde es mir einfallen, von meinem Lebensweg abzukommen, um andere Menschen damit glücklich zu machen. Meine Familie nennt es rücksichtslos, ich nenne es selbstbestimmt. Kein Mensch soll sein glückliches Leben wegschmeißen, um anderen zu gefallen. Ihr lebt nur für euch, vergesst das nie.